Statement
10. März 2023Die Annahme einer ukrainischen Beteiligung an den Nordstream-Anschlägen beruht auf Fehlinformationen
Darstellungen, die von einem ukrainischen Sabotageakt an den Nordstream-Pipelines berichten, spielen Putin und sogenannten Russlandversteher*innen in die Karten. Mit solchen Spekulationen, die sich jeder Grundlage entziehen, soll ein Keil zwischen die Ukraine und ihre westlichen Partner geschlagen werden.
Am 26. September gab es einen Sabotageakt an den Nordstream-Pipelines. Seitdem ermitteln verschiedene Behörden, wer für die Explosionen in der Ostsee verantwortlich ist. Deutsche Staatsanwält*innen haben nun Spuren gefunden, die darauf hindeuten, dass Ukrainer*innen an den Explosionen beteiligt gewesen sein könnten, mit denen die Nord Stream gesprengt wurde.
Es scheint, als hätten wir nach der Corona-Pandemie und einem Jahr Ukrainekrieg wenig über Faktencheck gelernt. Seit dem 7. März kursiert in den internationalen Medien das Narrativ, es könnten tatsächlich pro-ukrainische Kreise an den Anschlägen beteiligt gewesen sein. In einem Bericht der New York Times heißt es beispielswiese, dass „Geheimdienstinformationen darauf hindeuten, dass eine pro-ukrainische Gruppe“ die Pipelines sabotiert hat. Gleichzeitig wird betont, dass es keine Beweise dafür gibt, dass ukrainische Behörden den Angriff angeordnet haben oder daran beteiligt waren. Die Spekulationen treiben seither die wildesten Blüten.
Die Faktenlage sieht derzeit wie folgt aus: Die Ermittler*innen identifizierten ein Boot, mit dem Anfang September möglicherweise eine sechsköpfige Besatzung, Tauchausrüstung und Sprengstoff in die Ostsee transportiert wurde. In den deutschen Berichten hieß es, die Yacht sei von einer Firma mit Sitz in Polen gemietet worden, die „offenbar zwei Ukrainern gehört„.
>Nach Angaben der deutschen Staatsanwaltschaft bestand das Team, das die Sprengladungen an den Pipelines anbrachte, aus fünf Männern – einem Kapitän, zwei Tauchern und zwei Tauchassistenten – sowie einer Ärztin, die alle eine unbekannte Nationalität hatten und mit falschen Pässen arbeiteten. Sie verließen den deutschen Hafen von Rostock am 6. September mit dem gemieteten Boot. Die Yacht sei später „in ungereinigtem Zustand“ an den Eigentümer zurückgegeben worden, und „auf dem Tisch in der Kabine konnten die Ermittler Spuren von Sprengstoff feststellen„. Am 9. März ist bekannt geworden, dass ein zweites Schiff offenbar von Rügen mit einer Gruppe von 6 Personen aufgebrochen ist, um Sprengstoff zu den Pipelines zu bringen. Nach Medienberichten hätten zwei Personen an Bord einen ukrainischen Pass gehabt.
Überschriften, die in diesem Zusammenhang auf eine mögliche Beteiligung des ukrainischen Staates oder pro-ukrainischer Gruppen hinweisen, verbreiten Fehlinformationen. Mit diesen gießen Journalist*innen in der derzeitig sowieso schon angespannten Stimmung um Fragen der Energieversorgung, Waffenlieferungen und die Aufnahme von Geflüchteten Öl ins Feuer. Vieles darauf hin, dass sich die eine ukrainische Beteiligung höchst unwahrscheinlich ist. In den Berichten schließen die deutschen Ermittler*innen nicht aus, dass die mögliche Verbindung zur Ukraine Teil einer Operation unter falscher Flagge war. Deren Ziel wäre es, Kyjiw die Schuld an den Anschlägen zuzuschieben. Eine direkte Verbindung in ukrainische Gruppierungen oder Regierungskreise ist nach Darstellung der Ermittler*innen nicht nachweisbar.
Expert*innen sind sich einig, dass es sich bei den Anschlägen um eine professionell organisierte Aktion gehandelt haben muss. Es kann nicht sein, dass einfach eine beliebige Gruppe an Personen hinter den Anschlägen steckt. Die Gründe dafür hat der Energie- und Gasexperte Michael Gonchar in einem längeren und lesenswerten Beitrag veröffentlicht.
Gonchar, der lange Zeit in der NGO „Nomos“ (Förderung der Untersuchung der geopolitischen Fragen und Euro-Atlantischen Zusammenarbeit Schwarzmeer-Raum) für das Resort Energie zuständig war, rückt mit seiner Expertise zu Untersee-Pipelines die Berichterstattung in ein neues Licht. Er kann durch die technische Beschreibung solcher Anlagen deutlich zeigen, dass es keinesfalls eine Sprengung durch eine unprofessionelle Gruppe mit ein paar Kilogramm Sprengstoff gegeben haben kann. Die Pipelines können nur, und das in stundenlanger Arbeit durch fachkundiges Personal mit Kenntnissen des Ostseeraums und der nötigen, schwer erhältlichen Ausstattung gesprengt worden sein. Vor dem Hintergrund dieses großen Aufwandes sei es höchst alarmierend, wenn westliche wirklich keine Vorabinformationen über den geplanten Angriff gehabt hätten.
Die ausführlichere Darstellung Gonchars findest Du in deutscher Übersetzung weiter unten oder unter dem folgenden Link auf Ukrainisch: