Osteuropa

Ein kühler Kopf und ein warmes Herz für die Ukraine und einen dauerhaften Frieden in Europa

In der Politik der deutschen Bundesregierungen gegenüber der Russischen Föderation und der Ukraine wurden innerhalb der letzten 15 Jahre grobe Fehler gemacht. Es ist wichtig, diese Fehler ehrlich aufzuarbeiten, um den Frieden im restlichen Europa zu erhalten.

Das Eingeständnis des ehemaligen Außenministers und jetzigen Bundespräsidenten Steinmeiers, dass er all die Jahre Präsident Putin falsch eingeschätzt hat, war ein wichtiger, erster Schritt hinsichtlich der Russlandpolitik. Wichtig ist aber auch, die Fehler gegenüber der Ukraine einzugestehen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Parteiergreifende Beiträge von Parteigenoss:innen sind dabei wenig hilfreich. Im Gegenteil, wenn damit wichtige Tatsachen falsch dargestellt, vermischt oder unter den Tisch gefallen lassen werden, wird die Fehleranalyse nur erschwert und eine Behebung des außen- und sicherheitspolitischen Schadens, bzw. Sicherung des Friedens in Europa erschwert.

Die Entscheidung der deutschen Bundesregierung, in 2008 der Ukraine die Aufnahme in die NATO zu verweigern, war in der Rückschau vieler Expert:innen ein Fehler. Dabei könnte man aber vielleicht der damaligen Bundesregierung noch zugestehen, dass die wahren Absichten Putins zumindest für die Gutgläubigen in Deutschland noch nicht so offensichtlich waren. Spätestens nach der brutalen Unterdrückung der Proteste gegen offensichtliche Wahlfälschungen bei den russischen Parlamentswahlen 2011 hätte aber jede Bundesregierung vorsichtiger werden müssen.

Ein kurzer Lichtblick gegenüber den demokratischen Bewegungen in der Ukraine und Russland war die Reise des damaligen Außenministers Guido Westerwelle nach Kyjiw im Dezember 2013, wo er sich kurz auf dem Maidan zeigte. Leider blieb dies ein singuläres Aufleuchten politischer Unterstützung der Hausspitze des Auswärtigen Amts für die Demokratie in der Ukraine.

Schon drei Monate später, im Februar 2014, kam es mit dem Nachfolger im Amt zu einem Tiefschlag der deutschen Außenpolitik gegenüber den Ukrainer:innen. Außenminister Steinmeier besuchte Kyjiw erst nach dem Tod von Dutzenden proeuropäischen Demonstrant:innen am 20. Februar 2014. Dem Maidan selbst war er dabei ferngeblieben, obwohl der deutsche Außenminister bereits Ende Dezember 2013 von Vitalii Klitschko nach Kyjiw eingeladen wurde. Ein früherer Besuch Kyjiws und des Maidans als deutliches politisches Signal der neuen Bundesregierung an Präsidenten Janukowitsch und Präsidenten Putin hätte möglicherweise das Blutvergießen auf dem Maidan verhindern können. Aber mit solch einem politischen Signal wäre Außenminister Steinmeier den Interessen des Kremls zu sehr in die Quere gekommen.

Am Abend des 20. Februars 2014 hatte das ukrainische Parlament in einer historischen Sitzung gegen den Willen des Präsidenten Janukowitsch in einer Resolution sämtliche Sicherheitsorgane der Ukraine den Gebrauch der Waffen gegen die Demonstrant:innen verboten. Durch diesen mutigen Schritt des ukrainischen Parlaments waren die Unruhen beendet und die Macht Janukowitsch gebrochen, seine Tage gezählt. Es war nur noch eine Frage von Tagen, dass Präsident Janukowitsch entweder im Exil oder vor Gericht enden würde.

Statt sich dieser neuen Realität zu stellen, initiierte der deutsche Außenminister Steinmeier in enger Kooperation mit dem Sondergesandten von Präsident Putin und in Anwesenheit eines französischen und polnischen Kollegen eine Übereinkunft, demnach Präsident Janukowitsch bis zu neun weiteren Monaten im Amt geblieben wäre. Angesichts des durch Präsidenten Janukowitsch verschuldeten Toten auf dem Maidan ein fast zynischer Vorschlag. Unter dem offensichtlichen Druck des deutschen Außenministers unterschrieben die ukrainischen Vertreter der Oppositionsparteien das Abkommen. Aber selbst der Sondergesandte Präsident Putins hatte verstanden, dass Präsident Janukowitsch nicht mehr zu halten war. Er verschwand, ohne selbst das Abkommen zu unterschreiben. Genauso wie der französische Vertreter des Außenministeriums.

Durch die Flucht von Präsident Janukowitsch wenige Stunden nach seiner Unterzeichnung des Abkommens war dieses selbst bereits hinfällig geworden. Während man in Berlin in Unwissenheit um die Rolle des ukrainischen Parlaments Außenminister Steinmeier auf die Schultern klopfte, blieb in Kyjiw der beschämende Eindruck zurück, dass für Außenminister Steinmeier die Interessen des Kremls wichtiger gewesen waren als die Interessen der Ukrainer:innen und deren Wunsch nach Gerechtigkeit. Dieser Eindruck wurde auch durch die Beobachtung verstärkt, dass der deutsche Außenminister wohl als einziger der europäischen Außenminister kein einziges Mal mit einem symbolischen Besuch des Maidans den Opfern des Aufstandes gegen Präsident Janukowitsch gedacht hat. Es ist Sigmar Gabriel hoch anzurechnen, dass zumindest er als Bundeswirtschaftsminister diese wichtige Geste geliefert hat.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier hingegen folgte weiter seiner Richtung Moskau ausgerichteten Kompassnadel. Ähnlich verhielt es sich mit dem „Minsker Abkommen“, dessen Ziel es war, den durch nichts zu rechtfertigenden Angriff Russland auf den ukrainischen Donbass zu stoppen. Mit seiner „Steinmeier-Formel“ verstärkte allerdings der deutsche Außenminister den Eindruck bei den Ukrainer:innen und bei manchen Europäischen Partner:innen, dass er bereit war, zu jedem Preis für die Ukraine die Interessen des Kremls zu bedienen. Seine Formel sah implizit vor, dass die Wahlen im besetzen Donbass in Anwesenheit von russischen Truppen und deren Vertreter abgehalten werden können. Dass unter diesen Umständen nur die Parteien des Kremls „die faire und transparente Wahl“ hätten gewinnen können, versteht sich von selbst. Ein absurder Vorschlag, der aus verständlichen Gründen nie ernsthaft in Betracht gezogen wurde, aber zu wachsendem Misstrauen in der Ukraine und einigen EU-Mitgliedsstaaten gegenüber den Absichten der deutschen Außenpolitik geführt hat.

Wenn dem früheren Außenminister Steinmeier attestiert wird, dass er mehr Geld aus dem Bundeshauhalt für die Unterstützung der Ukraine mobilisiert hat als alle anderen EU-Mitgliedstaaten, dann natürlich auch deshalb, weil Deutschland die größte Volkswirtschaft der EU ist. Es ist ja fast selbsterklärend, dass diese auch den größten Anteil für die finanzielle Unterstützung eines EU-Mitgliedstaates bereitstellen konnte. Alles andere wäre peinlich für Deutschland.

Die deutsche Hilfe kam aus ukrainischer Sicht allerdings mit einem großen Haken: Aufgrund der restriktiven Waffenexport-Gesetze gegenüber der Ukraine war trotz des russischen Angriffs 2014 und der Besetzung großer Teile im Donbass eine Lieferung von Waffen zur Selbstverteidigung bis zum 24. Februar 2022 nicht möglich. Einerseits rüstete die Russische Föderation über Jahre hinweg massiv auf, es gab sogar nach 2014 nicht unwesentliche Militärexporte nach Russland und Kooperationen der Bundesrepublik mit der russischen Armee, andererseits wurde der Ukraine bis zum 24. Februar 2022 die Lieferung jeglichen militärischen Geräts komplett verweigert. Außenminister Steinmeier war auch hier ein guter Kontakt nach Moskau wichtiger als die Sicherheitsinteressen der Ukrainer. Sein Nachfolger, Heiko Maas, hat sich stärker von Russland distanziert. Aber auch er wollte die Sicherheitsbedürfnisse der Ukraine nicht akzeptieren.

Dies hat Folgen für die Sicherheitsinteressen Deutschlands heute. Denn aufgrund der Nicht-Lieferung und der Nicht-Kooperation mit dem ukrainischen Militär durch das SPD geführte Außenamt und der Minister Steinmeier und Maas fehlen der Bundeswehr aktuell auch Wissen über die Fähigkeiten und Kapazitäten des ukrainischen Militärs. Die ukrainische Armee verfügt über vielfältige Erfahrungen, wie man sich gegen die Taktiken und die neuen, komplexen, Waffensysteme des russischen Militärs verteidigen kann. Die deutsche Bundeswehr kennt die neuen komplexen Waffensystemen des russischen Militärs weniger aus eigener Anschauung denn aus dem Internet. Damit wird sie im Falle eines etwaigen Angriffs durch Putins Russland Deutschland weniger effizient schützen können.

Statt die Erfahrungen der ukrainischen Militärs zur Verbesserung der eigenen Wehrhaftigkeit zu nutzen, obstruiert das SPD-geführte Verteidigungsministerium die Lieferung von komplexen Waffensystemen wie dem Schützenpanzer mit dem Argument, dass den Ukrainern erst noch in vielen Monaten der taktische Gebrauch dieser Waffen beizubringen ist. Man fragt sich, welche Taktiken die Bundeswehr, die seit ihrem Bestehen keinen einzigen Einsatz gegen eine konventionelle Armee führen musste, dem ukrainischen Militär vermitteln könnte. Das SPD-geführte Bundesverteidigungsministerium macht sich mit diesen und anderen Argumenten bei ihren NATO-Partnern im besten Falle lächerlich, im schlimmsten Falle verdächtig. Die NATO-Partner wissen gut, dass das Umgekehrte gilt – man lernt inzwischen von und mit dem ukrainischen Militär, durch welche Taktiken man Angriffe durch russische Truppen und deren Militärtechnik abwehrt. Für den deutschen Beitrag zur Verteidigungsbereitschaft der NATO wäre es besser, auch deutsche Panzer der Ukraine zur Verfügung zu stellen und mit den Ukrainer:innen die Stärken und Schwächen dieser Waffe im Einsatz gegen eine die russische Armee zu erlernen als diese Geräte ausschließlich in der eigenen Bundeswehr einzusetzen. Von EU- und NATO-Partnern kommt zunehmend der Verdacht der Sabotage auf und Kolleg:innen fragen ganz unverblümt, ob der deutsche Kanzler sogar einen globalen Atomkrieg fürchtet, sollte er auch nur einen gepanzerten deutschen Schäferhund in die Ukraine liefern.

Russlands Angriff auf die Ukraine wird von allen europäischen Ländern als existentielle Bedrohung empfunden. In Reaktion darauf beabsichtigen Schweden und Finnland der NATO beizutreten. Spanien und Italien sind mobilisiert und liefern Waffen an die Ukraine. Italien ist bereit, trotz eigener großer Abhängigkeit von russischer Energie, ein EU Embargo gegen Öl, Gas und Kohle aus Russland mitzutragen. Allein der deutsche Bundeskanzler zaudert und zögert. Ihm scheinen das emotionale Wohlbefinden seiner eigenen SPD oder auch die Interessen der SPD-Wähler:innen in der anstehenden NRW-Wahl näher zu sein als das Überleben der Ukraine und die Sicherheit Europas. Mit wachsender Beunruhigung verfolgen die europäischen Partner wie der Bundeskanzler die Gefahr ignoriert und sich betreffs Waffenlieferungen in die Ukraine in immer größere Widersprüche verwickelt, nur um die Lieferung von relevanten deutschen Waffen in die Ukraine zu sabotieren. Damit wächst das Misstrauen in die deutsche Außenpolitik.

Es wäre Zeit, dass die von Kanzler Scholz angekündigte „Zeitenwende“ Realität wird. Außerdem wäre eine Reise in die Ukraine unabdingbar. Er hatte es verpasst, noch vor dem Krieg die Front im Donbass zu besuchen. So sollte er zumindest jetzt zumindest Kyjiw und die Städte im Kyjiwer Oblast besuchen, in denen die schweren Menschenrechtsverbrechen stattgefunden haben. Das würde ihm helfen zu verstehen, dass jeder Waffenstillstand und jedes Friedensabkommen, das russische Truppen in der Ukraine belässt, in einem Genozid in den besetzten Gebieten endet. Wer mit Russland verhandelt ohne der Ukraine schwere Waffen zu liefern, ist nicht schuld an diesem Krieg, aber ist schuld an der brutalen Unterdrückung, an den Entführungen und am Morden an der Zivilbevölkerung, die in den besetzten Gebieten stattfinden, auch im besetzen Donbass und der Krim. Das kann die deutsche Sozialdemokratie, und speziell der Kanzler, nicht wollen.

Es ist zu hoffen, dass die Kolleg:innen der SPD-Fraktion im Bundestag sich nicht dem Reiseverbot in die Ukraine ihres Fraktionschefs unterstellen. Ein solches Reiseverbot in quasi sowjetischer Manier wirkt sehr befremdlich. Es scheint so, als wolle der Fraktionschef verhindern, dass seine Abgeordneten durch persönliche Eindrücke in der Ukraine auf den Gedanken kommen, die nicht mit seinem ideologischen Weltbild zusammenpassen. Für diese Abneigung gegen Reisen in den Osten lassen sich auch kaum Erklärungen finden, denn hat doch genau die Führung dieser Partei, der SPD, bis zum 24 Februar 2022 jede nur irgendwie verfügbare Gelegenheit genutzt, um mit Reisen nach Russland die russische Position besser zu verstehen. Warum gilt also nun nicht das Gleiche für die Ukraine?

Die Folgen dieser intensiven Kremlkontakte sind überall spürbar. Es ist es erschreckend zu sehen, dass es in der SPD immer noch Protagonisten des Narrativs der Kreml-Propaganda gibt, demnach es im Donbass eine „russischsprachige Minderheit“ gäbe, deren Rechte unterdrückt werden und deshalb einen „Sonderstatus“ erfordern. Hier macht sich das fatale Fehlen persönlicher Erfahrungen in der Ukraine innerhalb der deutschen Sozialdemokratie bemerkbar. Jede deutsche Politikerin, die des Russischen mächtig ist, kann sich mit einer Reise nach Kyjiw oder in andere Städte im Zentrum und Osten der Ukraine selbst davon überzeugen, dass Russisch in den urbanen Zentren immer noch die dominierende Sprache ist. Es gab und gibt keine „russischsprachige Minderheit“ in der Ukraine, die in irgendeiner Weise unterdrückt wird. Was es gibt, sind besetzte Gebiete im Donbass und der Krim, wo jede und jeder, die oder der sich für die ukrainische oder tatarische Identität einsetzt, verhaftet, entführt, gefoltert wird. Der Kanzler ist sich vielleicht dessen nicht voll bewusst. Ein Besuch in Irpin oder Bucha könnte sicherlich helfen zu verstehen, wie das Leben in den russisch besetzten Gebieten, einschließlich Donbass und der Krim derzeit aussieht.

All die Putin-basierten Russlandkontakte der SPD scheinen auch eine weitere wichtige Einsicht blockiert zu haben: Russland ist nicht gleich Putin. Auch in Russland wächst nun eine neue, post-sowjetische Generation heran, die ein anderes, ein sympathisches Russland möchte. Ein „ukrainisches Russland“ – frei, demokratisch, mit Raum für Streit und Wettbewerb der Ideen, und religiöse und sexuelle Toleranz. Alle, die sich allerdings an Putin anbiedern, blockieren damit auch indirekt die Evolution dieses neuen, anderen Russlands.

Wenn die Ukraine hoffentlich die russischen Truppen aus ihrem Land vertrieben hat, wird es einen Umbruch in Russland geben, der das Land noch in die richtige Richtung bringen kann, bevor es unter Putin zu einer de-facto Provinz der Volksrepublik China degeneriert. Deshalb ist eine vollumfängliche humanitäre, wirtschaftliche, aber eben auch militärische Unterstützung der Ukraine sofort – und nicht erst in ein paar Wochen – im Interesse von uns allen, uns Deutschen, den Ukrainer:innen, und den jungen Russ:innen.

Mit einer Ukraine in ihrer vollen territorialen Integrität und Souveränität, und einem neuen Russland, das sich demokratisch und in Freiheit entwickelt, gewissermaßen „ukrainisiert“ wird in Europa wieder ein dauerhafter Frieden möglich, der nicht nur in Russland Wohlstand für alle schafft (nicht nur für eine Handvoll Oligarchen und dem Präsidenten), sondern es auch erlaubt, gemeinsam die riesigen Herausforderungen des globalen Klimawandels zu meistern.

Mit einem kühlen Kopf und einem warmen Herz für die Ukraine, können wir dauerhaft den Frieden in Europa sichern.

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