Osteuropa

Die "Ukrainisierung" Russlands - eine einmalige Chance für alle

17. Juni 2022

Als der Autokrat Putin seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine begann, waren wir erschüttert, aber vorbereitet. Sanktionen wurden innerhalb weniger Tage umgesetzt.

Jetzt stehen wir vor einer Situation, auf die wir nicht vorbereitet sind. Womöglich hätte am 24. Februar 2022 niemand gedacht, dass die Ukraine als Reaktion auf Putins Aggression die Oberhand gewinnen und vielleicht sogar alle russischen Truppen aus ihrem Gebiet, einschließlich der Krim und des Donbas, vertreiben könnte.

Die unfassbare Tapferkeit und Geschicklichkeit der ukrainischen Armee und der ukrainischen Bürger:innen, die den Widerstand auf vielen Ebenen sehr effizient und dezentral organisieren, schaffen neue Möglichkeiten: Ein umfassender ukrainischer Erfolg kann die Russische Föderation zum Besseren verändern, zum Nutzen von uns allen. Aber dafür müssen wir gerüstet und entschlossen sein.

Leider sind einige westliche Politiker:innen und Expert:innen nach mehr als zwei Jahrzehnten der Herrschaft Putins zu dessen geistigen Geiseln geworden. Sie haben jegliche Vorstellung davon verloren, wie Russland ohne Putin aussehen könnte und welche positiven Veränderungen möglich sind. Implizit sind viele westliche Beobachter:innen entlang der Putinschen Ideologie der Idee verfallen, dass die russische Gesellschaft nicht bereit und in der Lage ist, sich zu einer offenen und liberalen Gesellschaft mit einem förderlichen Wettbewerb um die besten Ideen zu entwickeln.

In dieser Besessenheit von Putin übersehen viele die Bedeutung eines vollständigen Sieges der Ukraine über die russischen Truppen als Schlüsselelement für eine Transformation der russischen Gesellschaft. An dem Tag, an dem die ukrainischen Truppen die letzten russischen Soldaten aus der Ukraine (inklusive der Krim) vertreiben, wird eine Neuordnung der Machtverhältnisse in Moskau beginnen. Wenn wir gut vorbereitet sind, wird diese Konstellation Russland ermöglichen, seinen Kurs in eine neue, bessere Richtung zu ändern.

Leider lassen sich zu viele ablenken von der Bedrohung eines Atomkriegs, sollte die Ukraine die russischen Truppen aus ihrem Land vertreiben. Natürlich wird Präsident Putin die nukleare Bedrohung einsetzen, solange er im Amt ist. Aber mit dessen Auftritt bei der Parade in Moskau am 9. Mai 2022 hat sich diese Bedrohung als bedeutungslos erwiesen. Putin wirkte wie ein kranker Mann, völlig losgelöst von der Lebensrealität seiner Bürger:innen und sichtlich ohne jegliches Charisma. Er hat keinerlei Anziehungskraft mehr für irgendjemanden.

Er ist nicht mehr der Mann, für den andere bereit waren, ihre Zukunft buchstäblich aufs Spiel zu setzen, indem sie die Knöpfe zum Auslösen eines Atomkriegs drücken. Vielmehr gibt es eine wachsende Zahl von Russ:innen, die insgeheim auf eine Niederlage Russlands in der Ukraine hoffen, da dies die einzige Chance ist, ihren autokratischen Herrscher loszuwerden. An dem Tag, an dem die Ukraine die volle Kontrolle über ihr Territorium wiedererlangt, werden Putin und seine Entourage von den wirtschaftlichen, administrativen und militärischen Eliten für dieses riesige Desaster zur Rechenschaft gezogen werden. Putin wird auf die eine oder andere Weise zurücktreten müssen.  Dieser Moment wird eine Chance für die russische Gesellschaft sein, den Kurs des Landes zum Besseren zu ändern. Nach den traumatischen Erfahrungen mit der zentralisierten Herrschaft Putins werden die Eliten eine Dezentralisierung der Macht anstreben.

Dieser Moment muss genutzt werden, um die Russ:innen für eine bessere Zukunft ihres Landes zu begeistern. Dafür sollten wir uns durch verschiedene Maßnahmen vorbereiten. Die Ausarbeitung eines Sofortprogramms möchte ich entsprechenden Expert:innen überlassen. Die folgenden zwei Punkte erscheinen mir jedoch besonders wichtig:

Erstens sollten wir uns darin einig sein, dass die harten Sanktionen, die jetzt verhängt wurden, nur im Gegenzug für volle Rede- und Medienfreiheit in Russland aufgehoben werden. Meinungsfreiheit ist von zentraler Bedeutung, um einen konstruktiven Dialog innerhalb der russischen Gesellschaft über die künftige Entwicklung des Landes zu ermöglichen.

Zweitens werden die russischen Eliten angesichts der Erfahrungen mit der stark zentralisierten Herrschaft von Präsident Putin auch ein persönliches Interesse an der Dezentralisierung der Macht haben, um die Herausbildung eines neuen Putins zu vermeiden. Was die meisten westlichen Politiker:innen und Expert:innen nicht wissen, ist, dass russische Gemeinden und Städte über fast keine Selbstverwaltungsrecht verfügen. Ihre Bürgermeister:innen und Gemeinderät:innen haben kaum etwas zu entscheiden. Diese fehlende kommunale Selbstverwaltung begünstigt eine zentralisierte, autoritäre Herrschaft im Land: Die Präsidialverwaltung kann sich nach Belieben in jede noch so kleine lokale Angelegenheit einmischen und dafür sorgen, dass selbst auf lokaler Ebene alle das Gefühl haben, der russische Präsident kontrolliere alles und jeden.

Die Ukraine kann der Russischen Föderation hier die Erfahrungen aus ihrer eigenen, sehr erfolgreichen Dezentralisierungsreform bieten. Im Zuge dieser Entwicklung wurde in einem selbstgewählten Prozess eine echte lokale Selbstverwaltung auf kommunaler Ebene eingeführt. Die Gemeinden erhalten einen beträchtlichen Anteil der Einkommenssteuer zur Finanzierung lokaler öffentlicher Dienstleistungen. Durch die geringere steuerliche Abhängigkeit von der Zentralregierung wurden die Gemeinden so zu Hochburgen der lokalen Demokratie, in denen sich der einstige Homo Sovieticus schnell in echte Bürger:innen verwandelte, deren Handlungsfähigkeit die feudalistische Abhängigkeit von einem allmächtigen Zaren ablöste.

Einige Beobachter:innen, die immer noch im Putin-Narrativ vom ewig unterwürfigen russischen Volk gefangen sind, werden argumentieren, dass diese Russ:innen keine lokale Selbstverwaltung annehmen werden. Das gleiche Argument wurde in der Ukraine angebracht, als die Dezentralisierungsreform 2015 begann. Doch die Befürchtungen erwiesen sich als falsch. Die ersten Maßnahmen zur kommunalen Selbstverwaltung wurde in dem Teil der Ukraine umgesetzt, der am längsten unter der Herrschaft der Sowjetunion stand, in Siedlungen nahe der russischen Grenze, im Gebiet Luhansk. Entscheidungen in die eigenen Hände zu nehmen und lokale Angelegenheiten mit Gleichgesinnten auf Augenhöhe zu regeln, ist etwas, das letztendlich alle Menschen anspricht. Die Russ:innen werden hier keine Ausnahme darstellen. Sie werden eine „Ukrainisierung“ Russlands, d. h. der Aufbau einer echten lokalen Selbstverwaltung, mit Freude annehmen.

Mehr noch: Eine „Ukrainisierung“ der russischen Städte und Gemeinden wird zu einer unmittelbaren Verbesserung des Lebens der einfachen russischen Bürger:innen führen. Die in die Haushalte der Gemeinden eingezahlten Steuern werden effizient in lokale Schulen und Krankenhäuser investiert werden. Ein solches Russland, das sich stärker an den Bedürfnissen seiner Bürger:innen orientiert, wird zudem zu einem konstruktiven Partner bei der zentralen Herausforderung, vor der wir stehen  – der globalen Erderwärmung. Die weltweite Ernährungskrise, die Putin derzeit auslöst, lässt uns leider keinerlei Zweifel daran, dass er auch die Folgen des Klimawandels nutzen würde, um demokratische Länder zu erpressen. Ein Russland mit starken Kommunen wäre ein konstruktiver Partner bei der Bewältigung der Klimakrise, da diese auch das Wohlergehen der eigenen Bürger:innen betrifft.

Um es noch einmal deutlich zu machen: Ein vollständiger Sieg der Ukraine bietet uns allen, einschließlich der vielen Russ:innen innerhalb und außerhalb des Landes, die von einem modernen Russland träumen, eine einzigartige Möglichkeit: Den Teufelskreis des neokolonialistischen Imperialismus zu durchbrechen und allen Russ:innen ein besseres Leben zu ermöglichen. Wenn wir diese Chance verpassen, wird Russland zu einer chinesischen Provinz verkommen, und Konflikte, Kriege und andere Aggressionen Russlands werden Europa in den kommenden Jahrzehnten heimsuchen. Vor diesem Hintergrund ist es völlig irrational, den Sieg der ukrainischen Truppen über Russland zu fürchten. Der Sieg der Ukraine in Verbindung mit unserer Vorbereitung darauf wird den Russ:innen die Gelegenheit bieten, ihr Land zu einem viel besseren Ort zu machen. Wir schulden deshalb nicht nur den Ukrainer:innen, sondern auch den Russ:innen jede Unterstützung – militärisch und wirtschaftlich – um sicherzustellen, dass die Ukraine alle russischen Truppen aus dem Land vertreibt.