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Armenien abseits der großen Überschriften - und doch nicht unwichtig

03. November 2023

Drei volle Tage war ich Mitte Oktober in Armenien unterwegs, um mir vor Ort einen Überblick zu verschaffen, wie es in dem Land aussieht, was gerade nicht nur seine territoriale Integrität verteidigen musste, sondern auch in vier Tagen über 100.000 Geflüchtete in einem echten Kraftakt aufnahm.

Es war nicht meine erste Armenienreise, sondern vermutlich meine sechste oder siebte. Drei oder viermal war ich als Bundestagsabgeordnete hier, 2016 für eine Woche, im letzten Sommer und nun wieder.

Der Krieg, die andauernden Attacken aus Aserbaidschan und die Flucht der Armenier:innen aus Berg-Karabach haben das Land sichtbar verändert, Am meisten jedoch haben sich das Land und seine politisch Verantwortlichen gewandelt. Nicht mehr die enge Beziehung zu Russland und die Sicherheitsgarantien aus Moskau sind entscheidend für das politische Handeln in Eriwan, sondern eine eigene, eine neue und selbstbewusste Haltung von Regierung und Parlament sind Ausdruck der Neuausrichtung des Landes.
Herauszufinden wie das neue, emanzipierte Armenien angesichts der schwierigen Nachbarschaft navigiert und wie Regierung und Zivilgesellschaft mit den Herausforderungen der über 100.000 neu aus Karabach angekommenen Menschen umgehen, war Ziel und Zweck meiner kurzen und intensiven Reise.

Die ersten zwei Tage verbrachten wir (ich wurde begleitet vom Team der Heinrich-Böll-Stiftung des Südkaukasus-Büros) zu politischen Gesprächen in der Hauptstadt Eriwan. Hier ging es in den Treffen mit internationalen Vertreter:innen, Regierungsvertreter:innen (auch lokalen wie dem Gouverneur aus Syunik), Kollegen aus der Armenischen Nationalversammlung und natürlich Menschen aus der Zivilgesellschaft vor allem darum, zu verstehen, was in den letzten Monaten passiert ist, aber auch, welche Unterstützungsleistungen Armenien nun am ehesten braucht. Am dritten Tag brachen wir sehr früh morgens auf, um einen Tag in Goris (Region Syunik, von dort geht der Lachin- Korridor ab) zu verbringen. Dort trafen wir u.a. die EUMA-Mission, welche wir auf ihrer Patrouille oberhalb des Lachin-Korridors begleiteten, und sprachen außerdem mit Geflüchteten, sowie verschiedenen, vor Ort tätigen, armenischen Hilfsorganisationen.

Um die aktuelle Situation besser zu verstehen, hier nochmal kurz im Exkurs die Fakten hergeleitet.

Von 1994-2020 hielt Armenien das völkerrechtlich zu Aserbaidschan gehörende Berg-Karabach sowie 7 weitere angrenzende Regionen Aserbaidschans besetzt. Die eigens dafür eingesetzte Verhandlungsgruppe (sog. “Minsk Gruppe”, bestehend aus FR, RU, USA sowie Armenien und Aserbaidschan) war zwar regelmäßig zu Verhandlungen zusammengekommen, hatte es aber bis 2020 nicht vermocht, einen Kompromiss für einen Friedensvertrag vorzulegen, der die Rückkehr der aserbaidschanischen Geflüchteten aus Berg-Karabach ermöglichte bzw. der von beiden Parteien akzeptiert wurde.

Anstatt auf eine zivile Lösung zu setzen, investierte Aserbaidschan in den letzten Jahren einen nicht unerheblichen Teil seiner Öl- und Gaseinnahmen in moderne Rüstung. Hilfreich bei der Aufrüstung und dem Training der Aserbaidschanischen Truppen waren allen voran die Türkei und Russland. Aber auch Israel verkaufte Drohnen. Weitere Rüstungsgüter kamen aus u.a. Serbien und aus der Tschechischen Republik.

Im September 2020 (zur Hochzeit der Corona-Krise und kurz nachdem der neue Premierminister Nikol Pashinyan durch freie und faire Wahlen ins Amt gekommen war) griff Aserbaidschan zunächst die von Armenien besetzten Regionen an, befreite diese und rückte anschließend weiter auf Teile von Berg-Karabach, hier vor allem nach Sushi/Susha fort. Interessant und wichtig ist hier vor allem, dass trotz bestehender Sicherheitsgarantien durch Russland, die in Armenien stationierten Einheiten den Truppen in Berg-Karabach nicht zur Hilfe kamen, um Aserbaidschan von der Rückeroberung abzuhalten.

Vielmehr nutzte Russland/Putin die militärische Schwäche Armeniens aus und bot sich 6 Wochen nach Kriegsbeginn als “Friedensverhandler” an. Der Waffenstillstandsvertrag wurde am 10. November unter Russlands Vermittlung unterzeichnet – unter anderem mit der Auflage, dass sich armenische Truppen aus dem besetzten Gebieten und aus Berg-Karabach zurückziehen sollten. Eine weitere Stationierung von rund 2.000 Soldaten, sollte zudem die Sicherheit der armenischen Bevölkerung in Berg-Karabach gewährleisten.

Armenien fühlte sich von den russischen, nicht-eingelösten Sicherheitsgarantien verraten und spätestens nach dem Nicht-Eingreifen der im Land stationierten Soldaten verstand die Staatsführung, dass Aserbaidschan nicht nur durch die Türkei unterstützt wurde, sondern dass sich Aserbaidschan im Vorfeld des Angriffs auch mit Russland verbrüdert hatte. Viele in Armenien mutmaßen, dass der militärische Angriff gegen Berg-Karabach auch als eine Abstrafung Pashinyans galt, da dieser der erste armenische Staatschef war, der als überzeugter Demokrat durch faire und freie Wahlen ins Amt gekommen war und der sich klar gegen den dominanten russischen Einfluss auf allen Gebieten (wirtschaftlich, militärisch, geheimdienstlich) in Armenien wandte.

An dieser Stelle begann die EU (leider erst im Dezember 2021) ihre Vermittlertätigkeit und versuchte (anders als Russland) ohne eigene wirtschaftliche oder militärische Interessen einen dauerhaften Friedensvertrag zwischen beiden Staaten zu verhandeln.

Erstmals wurde ohne zeitlichen Vorlauf eine zivile EU-Beobachtermission an der Grenze zwischen beiden Staaten installiert. Zunächst war auch die Zusage der aserbaidschanischen Führung erfolgt, die EU-Mission auf aserbaidschanischem Territorium zuzulassen. Diese wurde jedoch später wieder zurückgezogen. Mittlerweile ist die angestrebte Stärke von 100 zivilen Kräften (davon sind gut die Hälfte Beobachter, die an insgesamt 5 Standorten Patrouille fahren) auch erreicht.
Seit Dezember 2022 entschied sich Aserbaidschan den Lachin-Korridor, der von Armenien nach Stepanakert führt, für Güter jeglicher Art zu blockieren. Weder die russischen Truppen noch die zivile EU-Mission schienen an dieser unilateralen Entscheidung Aliyevs etwas ändern zu können. Die Blockade widersprach dem und verletzte den am 10. November 2020 unterzeichneten Waffenstillstandsvertrag, wobei Armenien dagegen seine Zusagen aus dem Vertrag durchgängig eingehalten hatte.

Auch wenn die EU-Beobachtermission an der aserbaidschanischen Blockade des Lachin-Korridors wenig ausrichten konnte, bis zum 19. September 2023 schien die EU-Vermittlungsmission unter der Ägide von Charles Michel ansonsten für eine diplomatische Friedensvertraglösung auf einem guten Weg. Aber wiederum fühlte sich Aliyev militärisch überlegen und entschied sich für eine militärische Lösung. Da Armenien den begrenzten Truppen in Berg-Karabach nicht zur Hilfe kam, eroberte Aserbaidschan die verbliebenen Teile von Berg-Karabach in rund 24 Stunden. Für die Menschen in Berg-Karabach war damit ein Albtraum wahr geworden. Fast niemand der rund 120.000 verbliebenen Bewohner:innen in der selbst ernannten Republik wollte bleiben. In weniger als einer Woche machten sich so gut wie die gesamte armenischstämmige Bevölkerung von Berg-Karabach in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Weg. Die meisten mussten einen Großteil ihrer Habseligkeiten in ihren Häusern zurücklassen.

Armenien musste an nur einem einzigen Grenzübergang nach UN-Angaben in 5 Tagen knapp 107.000 Menschen in Empfang nehmen. Viele von ihnen waren ausgemergelt, erkrankt und oft schwer traumatisiert. Viele der Geflüchteten kommen vom Land, gelten als sehr bodenständig und naturverbunden mit ihrer Heimat. Unvorstellbar, dass sie nun ohne ihre Tiere und ohne ihren eigenen Gemüsegarten leben sollen.

Und hier beginnen jetzt auch meine und unsere persönlichen Eindrücke von der Reise und von den einzelnen Begegnungen.

Um für die Geflüchteten aus Berg-Karabach Abhilfe zu schaffen, sollte die EU möglichst schnell folgende Maßnahmen ergreifen:

Flankiert durch die EU sowie abgesichert durch EU-Mission und internationale humanitäre Organisationen sollte es den Geflüchteten aus Berg-Karabach ermöglicht werden, jederzeit auch mit einem armenischen Dokument kurzzeitig in die Region zurück zu kehren, um zurückgelassene Gegenstände zu holen oder möglicherweise auch, um sich um Hinterlassenschaften (Tiere) zu kümmern.

Diese Forderung ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass mit der offiziellen Übernahme von Berg-Karabach nach der militärischen Rückeroberung die Verstärkung der Grenze und der Grenzanlagenbau, sowie der Straßen- und der Pipelinebau auf aserbaidschanischer Seite rasend schnell vorangehen. Schon in kurzer Zeit wird die ehemals grüne Grenze unüberwindbar sein.

Für die mehr als 100.000 geflüchteten Menschen muss mit Unterstützung der Vereinten Nationen und der EU kurzfristig ein Winterhilfspaket aufgesetzt werden, damit niemand in ungeheizten Wohnungen, einfachen Quartieren in abgelegneren Orten oder in Bergdörfern frieren oder Not leiden muss.
Die nächsten Schritte der Integration sollten gemeinsam mit der aufnehmenden Gesellschaft erfolgen. Falls Weiterbildungsprogramme oder Kredite für Start-ups, landwirtschaftliche oder bäuerliche Betriebe, zur landwirtschaftlichen Weiterverbreitung und zum Start von gewerblicher Produktion ausgeschrieben werden, sollten diese nicht ausschließlich für Geflüchtete, sondern für alle Interessierte in Armenien zugänglich sein.

In diesem Zuge könnten auch – wie seinerzeit in der Ukraine nach dem Maidan – Städte und Gemeinde mit einer Dezentralisierungsreform unterstützt werden, um damit Verwaltungswege zu verkürzen, eine gezieltere Mittelallokation staatlicher Gelder zu erreichen und die Beteiligung der Bürger:innen in den Kommunen zu erhöhen.

Sicherheit

Nach Einschätzung aller Gesprächspartner:innen wird Aliyev versuchen, den Sangesur-Korridor zur Exklave Nachitschewan mit militärischer Gewalt unter seine Kontrolle zu bringen. Die Frage scheint nur zu sein, wann und wo genau. Durch das stark profilierte Gelände dürften sich nicht alle Landesteile gleich gut eignen. Eine weitere Möglichkeit scheint die Umgehung des armenischen Territoriums zu sein und einen Korridor über Iran einzurichten. Ein solches Projekt würde auch die Zusammenarbeit zwischen Iran, Russland, Aserbaidschan und der Türkei noch vertiefen, u.a. deshalb versucht die EU gemeinsam mit Armenien eine friedliche Lösung zu finden, die das Territorium von Armenien nicht durchschneidet, also keinen Korridor, sondern eine “Passage” ermöglicht. Ein Korridor, der allein unter aserbaidschanischer Flagge betrieben würde, würde aus armenischer Sicht einen weiteren Verlust der eigenen Souveränität darstellen.

Erst wenn mit Aserbaidschan eine einvernehmliche Lösung gefunden wurde, wird auch die Türkei bereit sein, ihre Grenzen zu Armenien zu öffnen, was für die wirtschaftliche Entwicklung Armeniens extra wichtig ist, denn die aktuelle Situation der geschlossenen Grenzen (nach Osten und nach Westen) führt noch immer zu hohen zusätzlichen logistischen Kosten.

Die EU kann und sollte ihre zivile Beobachtermission verstärken – in Zahlen vor Ort, rund die Hälfte des sekundierten Personals kann nicht für die Patrouille eingesetzt werden, sondern wird für administrative Zwecke benötigt. Die 1000 km lange Grenze erfordert jedoch dringend mehr als 50 Beobachter:innen. Es sollte aber auch über Ausweitung des Mandats nachgedacht werden. Bereits jetzt werden vor allem militärische Kenntnisse benötigt. Ebenso wäre der Einsatz mit Drohnen sinnvoll.

Aktuell können bereits jetzt, nach den armenischen/sowjetischen bzw. internationalen Karten und Grenzverläufen, aserbaidschanische Positionen auf armenischem Kernland festgestellt werden. Diese Provokationen dürften zunehmen, sowohl im Grenzland als auch hinsichtlich der vier aserbaidschanischen Enklaven in Armenien.

Nach Ansicht aller Beobachter:innen und der meisten Partner:innen in Armenien wird nur ein kompaktes Sanktionspaket gegen Aserbaidschan und gegen die Familie von Präsident Aliyev selbst, das bereits jetzt ausformuliert auf dem Tisch liegen sollte, ihn davon abhalten, weitere Gebietsansprüche mit Gewalt durchzusetzen. Aktuell schrecken allerdings viele im Europäischen Rat und auch im Europäischen Auswärtigen Dienst (EAD) davor zurück. Hier hofft man zunächst als Mediator für den Friedensvertrag zwischen Armenien und Aserbaidschan zum Zuge zu kommen. Andere plädieren in der EU dafür, dass – sofern sich Aserbaidschan weiterhin einem Friedensvertrag unter Vermittlung der EU verweigert – erst dann mit konkreten Sanktionsdrohungen zu antworten.

Beziehungen zur EU vertiefen

Armenien ist eine sich immer stabiler entwickelnde Demokratie, die sich bewusst entschieden hat, ihre Wirtschaft und auch die politischen Prioritäten nach der EU auszurichten. Aktuell erscheint dieses Ansinnen nicht einfach, rund 80 Prozent des Handels und der Wirtschaft allgemein hängen vom russischen Markt ab. Pashinyans Regierung hat den Rückhalt eines Großteils der Bevölkerung für den aktuellen Kurs. Für Russland dagegen sind diese Regierung und der Premierminister, der schrittweise das Land auf einen westlichen und pro-demokratischen EU-Kurs führen möchte, ein echter Dorn im Auge. Der Kreml und seine Unterstützer arbeiten mit bezahlten Demonstrationen der pro-russischen Opposition, Desinformationskampagnen und dem Schüren von Angst der Stabilität im Land entgegen.

Aber auch Aserbaidschan und der Türkei ist die demokratische Regierung suspekt, Autokraten haken sich bekanntlich unter. Die EU hat mit Aserbaidschan im Sommer 2022 einen neuen Vertrag zur Erhöhung der Gasliefermengen abgeschlossen, das schränkt aktuell die politische Handlungsfähigkeit der EU gewissermaßen ein.

Das Vertrauen in den Premierminister, der sich an vielen Stellen von der russischen Vorherrschaft emanzipiert hat, ist unverändert groß.
Umso wichtiger ist es nun, Armenien und seiner Bevölkerung das Gefühl zu geben, dass ihre demokratischen Anstrengungen von der EU ernst genommen, honoriert und unterstützt werden. In diesem Sinne sollten die Handelsbeziehungen mit dem Land weiter vertieft werden, Armeniens Jugend sollte an den Austauschprogrammen der EU teilnehmen können und es sollte in absehbarer Zeit visafreies Reisen für die Bürger:innen in Aussicht gestellt werden. Die EU sollte mit dem Dialog für Visafreiheit sobald wie möglich beginnen.
Über die kurzfristigen Hilfen der humanitären Hilfe hinaus sollte die EU eine (Friedens)Mission nach Berg-Karabach anstoßen und dafür sorgen, dass mittelfristig wieder Vertrauen zwischen beiden Staaten hergestellt werden kann, dass für Geflüchtete aus Berg-Karabach, Sicherheitsgarantien gegeben werden und eine dauerhafte Rückkehr ermöglicht wird.

Armenien hat klar zum Ausdruck gebracht, dass es keine Notwendigkeit und Legitimierung mehr für eine Stationierung russischer Soldaten auf dem eigenen Territorium sieht. Die EU sollte Armenien bei dem Wunsch, seine Sicherheitsstrukturen neu auszurichten, ebenfalls unterstützen.

Danke, an Jana Islinger für die fotografische Begleitung der Reise.